Rabenschwärze
Die Raben sammelten sich auf den Mühlenflügeln, mehr als am Vortag. Margarethe warf ein Stück Brot in die Luft. Sofort stürzte sich einer der Vögel herab und fing es mit dem Schnabel. Die anderen umkreisten sie, als hätten sie eine Botschaft zu überbringen, die nur sie verstehen konnte.


Die alte Windmühle ragte wie ein stummer Wächter über die Marschlandschaft. Ihr gedrungener, kalkweißer Körper trug die vier mächtigen Flügel, die seit Monaten unbewegt in den grauen Himmel griffen. Daneben kauerte das Müllerhaus mit seinem verwitterten Reetdach und den kleinen, bleiverglaften Fenstern wie ein treuer Hund zu Füßen seines Herrn. Eine schmale Rinne durchschnitt das Schilf, führte Wasser vom Kanal zur Mühle – einst Lebensader des Anwesens, nun reglos wie alles andere. Kein Rauch stieg aus dem Schornstein, keine Stimmen drangen nach draußen. Nur die Raben kreisten, sammelten sich auf den Mühlenflügeln und stießen ihre kehligen Rufe aus, die der Wind über das Land trug. Vor dem Weg zur Mühle stand ein verwittertes Warnschild, dessen Farbe abblätterte – ein Zeichen, das die Menschen im Dorf nun wieder zu beachten begannen.
I.
Margarethes Hände bluteten. Wieder einmal. Die abgebrochenen Holzsplitter des Mühlenflügels hatten tiefe Schrammen in ihre Handflächen gerissen, als sie versucht hatte, das morsche Holz zu ersetzen. Sie stand auf dem schmalen Balkon der Mühle und saugte das Blut von ihren Fingern. Der salzige Geschmack vermischte sich mit dem der Enttäuschung.
Seit drei Wochen war sie zurück in Kröpelsdorf, und die Mühle ihres Vaters erwies sich als widerspenstiger, als sie erwartet hatte. Genau wie die Dorfbewohner.
"Ein Weib kann keine Mühle führen", hatte Bürgermeister Wessel gesagt, als sie vor dem Gemeinderat gestanden hatte, um ihr Erbe anzutreten. Sein Gesicht hatte sich in tiefe Falten gelegt, die Hände unruhig mit dem Siegelring gespielt. "Dein Vater hätte einen Sohn haben sollen."
"Aber er hatte nur mich", hatte sie geantwortet, den Rücken gerade wie eine Kerze. "Und ich weiß, wie man Korn mahlt."
Die Blicke der Männer hatten mehr gesagt als ihre Worte. Misstrauen und Unbehagen. Der Krieg hatte das Land dreißig Jahre lang ausgezehrt, und was er nicht genommen hatte, hatte die Pest geholt. In diesen Zeiten klammerten sich die Menschen an Ordnung und Gewissheit. Eine Frau, die eine Mühle betrieb – das war weder das eine noch das andere.
Als Margarethe den Blick über die Marschlandschaft schweifen ließ, sah sie eine Gestalt, die sich langsam auf die Mühle zu bewegte. Ein Bündel auf dem Rücken, ein Hinken im Gang. Sie erkannte Heinrich Lohmann sofort, obwohl sie ihn elf Jahre nicht gesehen hatte. Damals war er ein großer, kräftiger Junge gewesen, der im Frühjahr 1642 mit den anderen jungen Männern in den Krieg gezogen war. Zurückgekehrt war ein Mann mit eingefallenen Wangen und einem leblosen Bein.
Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und stieg die knarrende Treppe hinab. Als sie die Tür öffnete, war er noch zehn Schritte entfernt.
"Heinrich", sagte sie mit einem Nicken.
Er blieb stehen, überrascht, dass sie seinen Namen kannte.
"Margarethe Tiessen", sagte er schließlich. "Man sagte im Dorf, Euer Vater sei gestorben und Ihr zurückgekehrt."
"Beides wahr."
Er schwieg, schien mit seinen Gedanken zu ringen. Dann deutete er auf den Sack, den er trug.
"Ich habe etwas Gerste zu mahlen. Nicht viel, aber..." Er verstummte.
Margarethe spürte, wie ihr Herz einen Sprung machte. Der erste Kunde.
"Kommt herein", sagte sie und trat beiseite. Als Heinrich an ihr vorbeihumpelte, bemerkte sie, wie er kurz zusammenzuckte – nicht vom Schmerz des Beines, sondern vom Anblick der Rabenschar, die sich auf dem Dach der Mühle niedergelassen hatte.
II.
Die Gerste war schnell gemahlen. Heinrich hatte recht gehabt – es war nicht viel. Kaum mehr als ein Sack Mehl, gerade genug für ein paar Brote. Sie lehnte den Beutel gegen die Wand und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
"Warum seid Ihr zu mir gekommen?", fragte sie ohne Umschweife. "Die anderen meiden mich wie die Pest."
Heinrich stand an den Mühlstein gelehnt und beobachtete sie. Sein Blick war nicht abweisend wie der der anderen Dorfbewohner, eher... neugierig.
"Ich kenne Euch nicht so, wie sie Euch zu kennen glauben", sagte er langsam. "Ich war elf Jahre fort. Was sie über Euch denken, ist mir gleichgültig."
"Was denken sie denn?", fragte Margarethe, obwohl sie die Antwort bereits ahnte.
"Dass es unnatürlich ist. Eine Frau, die eine Mühle betreibt. Die weiß, wie man mit Getreide und Wind und Wasser umgeht." Er zögerte. "Und dann sind da noch die Raben."
"Was ist mit den Raben?"
"Sie sind erst gekommen, seit Ihr zurück seid. So viele, wie sie sagen. Pastor Harms sieht darin ein..." Er suchte nach Worten. "Ein unheilvolles Zeichen."
Margarethe schnaubte verächtlich. "Pastor Harms sieht in allem ein unheilvolles Zeichen, was nicht in sein enges Weltbild passt."
Sie nahm einen Eimer mit Wasser und begann, ihre blutigen Hände zu waschen. Heinrich trat näher, sein Blick auf ihre Verletzungen gerichtet.
"Ihr braucht Hilfe mit der Mühle", stellte er fest.
"Nur mit den Flügeln", antwortete sie schnell. "Der Rest ist in Ordnung. Mein Vater hat sie gut in Schuss gehalten, bis..." Ihre Stimme brach kurz. "Bis er krank wurde."
Heinrich nickte. "Ich könnte Euch helfen. Mit dem Holz. Mit den Reparaturen."
"Warum würdet Ihr das tun?"
Sein Blick wanderte durch die Mühle, hinauf zu den Balken, zum Mahlwerk, das Margarethe mühsam wieder zum Laufen gebracht hatte.
"Ich kann nicht mehr im Feld arbeiten, wie früher", sagte er leise. "Mein Bein... Aber ich kann noch hämmern und sägen. Und Ihr bezahlt mich mit Mehl."
Margarethe betrachtete ihn eingehend – sein hageres Gesicht, die Falten um die Augen, die zu tief waren für sein Alter, die Narbe, die sich von seiner Schläfe bis zum Kinn zog. Sie sah nicht nur den gebrochenen Mann, sondern auch den Jungen, der er einmal gewesen war. Den, der ihr als Kind Apfelstücke zugesteckt hatte, wenn niemand hinsah.
"Also gut", sagte sie. "Wir beginnen morgen."
Als Heinrich gegangen war, den Sack Mehl auf dem Rücken, trat Margarethe vor die Tür. Die Dämmerung brach herein, der Himmel färbte sich blutrot. Die Raben sammelten sich auf den Mühlenflügeln, mehr als am Vortag. Sie nahm ein Stück Brot und warf es in die Luft. Sofort stürzte sich einer der Vögel herab und fing es mit dem Schnabel. Die anderen folgten, umkreisten sie, ließen sich auf dem Boden nieder und warteten auf ihre Gabe.
"Ihr seid nicht so furchteinflößend, wie die Leute glauben", sagte sie zu ihnen.
Ein besonders großer Rabe landete auf dem Warnschild am Weg. Seine Augen glänzten im letzten Licht des Tages.
III.
Anna Wohlgemuth war seit Kindertagen Margarethes Freundin gewesen. Doch als sie an diesem Nachmittag die Mühle betrat, stand eine Fremde vor ihr – eine ordentlich gekleidete Frau mit akkurat gebundener Haube und einem Blick, der unsicher zwischen Freundschaft und Furcht schwankte.
"Du hast lange nicht nach mir gesehen", sagte Margarethe, während sie Holzstücke für den Ofen hackte.
"Es ist nicht einfach", antwortete Anna und stellte einen Korb auf den Tisch. "Die Leute reden."
"Die Leute reden immer."
"Diesmal ist es anders." Anna senkte die Stimme, obwohl niemand da war, der sie hätte hören können. "Sie sagen, du hättest Heinrich Lohmann verhext."
Margarethe hielt in der Bewegung inne, die Axt in der Luft. "Verhext?"
"Er arbeitet für dich. Ein Mann, der für eine Frau arbeitet. Das... das ist nicht richtig, sagen sie."
"Er repariert meine Mühlenflügel gegen Bezahlung in Mehl. Nennt man das jetzt Hexerei?"
Anna blickte nervös zum Fenster. "Drei Kühe haben im Dorf ihre Kälber tot geboren. Das Brot will nicht aufgehen. Und der kleine Junge von den Westkamps hat im Fieber von einer Frau gesprochen, die mit Raben spricht."
"Und natürlich soll ich das sein." Margarethe legte die Axt beiseite und griff nach dem Korb. Als sie das Tuch anhob, sah sie Brot, Käse und ein kleines Bündel getrockneter Kräuter. "Was ist das?"
"Johanniskraut", flüsterte Anna. "Meine Großmutter sagte immer, es schützt vor bösen Geistern. Du solltest es über deine Tür hängen."
Margarethe lachte trocken. "Du glaubst also auch, dass ich eine Hexe bin?"
"Nein! Ich will nur..." Anna seufzte. "Ich habe Angst um dich, Grethe. Die Zeiten sind nicht gut für Frauen, die anders sind."
Als Anna gegangen war, stand Margarethe lange vor ihrer Mühle und starrte auf das Bündel Johanniskraut in ihrer Hand. Hexerei. Ein Wort, das wie Gift wirkte, wenn es erst einmal ausgesprochen war. Sie wusste genug von der Welt, um zu verstehen, wohin solche Beschuldigungen führen konnten.
Heinrich erschien am Horizont, ein Bündel frisch geschnittener Holzlatten auf der Schulter. Die letzten Wochen gemeinsamer Arbeit hatten seine Haltung verändert – er ging aufrechter, trotz des lahmen Beins, und in seinen Augen lag wieder ein Funke Leben.
Sie verbarg das Johanniskraut in ihrer Tasche. Von Aberglauben würde sie sich nicht beirren lassen.
IV.
Der Sommer neigte sich dem Ende zu, und die Arbeit an der Mühle ging gut voran. Die Flügel waren repariert, das Dach neu gedeckt. Sogar das Mahlwerk lief reibungsloser als zu Zeiten ihres Vaters. Der alte Jens Tiessen war ein guter Müller gewesen, aber seine Tochter hatte in Hamburg Verbesserungen gesehen, die er nie kennengelernt hatte.
Eines Abends saßen Margarethe und Heinrich vor der Mühle auf einer Bank und teilten sich ein Brot mit Käse. Es war mittlerweile eine Gewohnheit geworden – am Ende eines Arbeitstages zusammenzusitzen und den Sonnenuntergang zu beobachten. Sie sprachen wenig, aber es war ein angenehmes Schweigen.
"Warum seid Ihr zurückgekommen?", fragte Heinrich plötzlich. "Nach Hamburg, meine ich. Dort hattet Ihr ein besseres Leben als hier."
Margarethe kaute langsam, bevor sie antwortete. "Es war nicht mein Zuhause. Und die Mühle ist alles, was mir von meiner Familie geblieben ist."
"Ihr hättet heiraten können. Eine Hamburger Kaufmannsfrau werden."
Sie lächelte schwach. "Und Handarbeiten machen und Kinder gebären und nie wieder eine Mühle betreten? Nein, danke."
"Ihr liebt sie wirklich, nicht wahr? Die Mühle."
Margarethe sah hinauf zu den Flügeln, die sich langsam im Abendwind drehten. "Es ist mehr als das. Wenn ich dort oben stehe und den Mechanismus überwache, das Korn durch meine Finger rinnen lasse... dann fühle ich mich frei. So frei, wie man als Frau in dieser Welt sein kann."
Heinrich nickte langsam. Verständnis lag in seinem Blick, nicht Urteil. "Die Leute im Dorf verstehen das nicht."
"Die Leute im Dorf wollen es nicht verstehen", korrigierte sie. "Sie haben Angst vor allem, was anders ist als das, was sie kennen."
Ein Rabe landete auf dem Mühlenflügel über ihren Köpfen und stieß einen durchdringenden Schrei aus. Dann ein zweiter. Und ein dritter. Binnen Minuten sammelten sich Dutzende der schwarzen Vögel um die Mühle, kreisten und krächzten, als hätten sie eine Botschaft zu überbringen.
"Sie kommen jeden Abend", sagte Heinrich leise. "Als würden sie Euch beschützen wollen."
Margarethe betrachtete die Vögel mit einem Gefühl zwischen Zuneigung und Unbehagen. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass sie da waren, hatte sogar begonnen, in ihnen eine Art Gesellschaft zu sehen. Aber warum sie sich ausgerechnet hier versammelten, wusste sie nicht.
"Vielleicht tun sie das", sagte sie. "Oder vielleicht sind sie einfach nur Raben, die einen guten Platz zum Ausruhen gefunden haben."
Als sie seinen Blick auf sich spürte, drehte sie sich zu ihm. In seinen Augen lag eine Wärme, die sie seit ihrer Rückkehr bei keinem Menschen gesehen hatte.
"Ich sollte gehen", sagte er und erhob sich mühsam. "Es wird spät."
"Ihr könntet bleiben", hörte sie sich selbst sagen, überrascht von der Direktheit ihrer Worte. "Die Nacht bricht an, und der Weg zum Dorf ist weit für Euer Bein."
Er zögerte, sein Blick forschend. "Die Leute würden reden."
"Die Leute reden bereits." Sie stand auf und trat einen Schritt auf ihn zu. "Was macht da ein bisschen mehr Gerede?"
Die Spannung zwischen ihnen war greifbar wie der aufkommende Nachtwind. Dann, mit einer Bewegung, die natürlicher nicht hätte sein können, legten sich seine rauen Hände um ihr Gesicht, und seine Lippen fanden die ihren in einem Kuss, der nach Arbeit und Brot und Sehnsucht schmeckte.
Über ihnen kreisten die Raben in einem schwarzen Reigen gegen den schwindenden Himmel.
V.
Der Morgen graute kaum, als das Hämmern an der Tür sie aus dem Schlaf riss. Margarethe fuhr hoch, die Wärme von Heinrichs Körper neben ihr noch spürbar.
"Aufmachen! Im Namen des Gemeinderats!"
Heinrichs Augen öffneten sich, Alarm und Verständnis gleichzeitig darin. "Sie kommen für dich", flüsterte er.
Mit zitternden Händen zog Margarethe sich an, während das Pochen an der Tür lauter wurde. Als sie öffnete, standen Bürgermeister Wessel, Pastor Harms und drei weitere Männer vor ihr, Fackeln in den Händen trotz des anbrechenden Tages.
"Margarethe Tiessen", verkündete Wessel mit einer Stimme, die mehr für die Begleiter als für sie bestimmt schien, "Ihr seid angeklagt der Hexerei und des Umgangs mit dunklen Mächten."
"Das ist lächerlich", entgegnete sie und versuchte, ihre Angst hinter Entrüstung zu verbergen.
Pastor Harms trat vor, sein hageres Gesicht von einem Eifer erhellt, der Margarethe erschaudern ließ. "Die Beweise sind eindeutig. Seit Eurer Rückkehr plagen Unglück und Krankheit unser Dorf. Die Raben, Vögel des Teufels, sammeln sich um Eure Behausung. Und nun..." Sein Blick wanderte über ihre Schulter, wo Heinrich in der Tür erschienen war. "Nun habt Ihr auch noch einen Mann verhext, damit er Euch zu Diensten ist."
"Ich bin nicht verhext", sagte Heinrich ruhig, aber bestimmt. "Ich arbeite für meinen Lohn, wie jeder andere."
"Schweigt, Lohmann", fuhr Wessel ihn an. "Ihr seid nicht bei klarem Verstand."
Der Pastor hob eine Hand, in der er ein kleines Buch hielt. "Wir haben Beweise für ihre Umtriebe gefunden. Ein Tagebuch ihres Vaters, in dem er von ihrer... unnatürlichen Begabung schreibt."
Margarethes Herz setzte einen Schlag aus. Das Tagebuch ihres Vaters? Sie wusste, dass er eines geführt hatte, aber sie hatte es nie gefunden.
"Was steht darin?", fragte sie, obwohl ihr die Antwort gleichgültig war. Was immer sie darin lasen, sie würden es gegen sie verwenden.
"Genug, um Euch vor Gericht zu stellen", antwortete Wessel grimmig. "Ihr werdet mit uns kommen."
"Nein", sagte Heinrich und stellte sich zwischen sie und die Männer. "Sie hat nichts getan."
Ein Rabe landete auf dem Dach über ihnen und stieß einen schrillen Schrei aus. Dann ein zweiter. Und ein dritter. Binnen Augenblicken verdunkelte sich der Himmel, als Hunderte von Raben herabstoben, kreisend und krächzend, als wollten sie die Männer vertreiben.
Die Dorfbewohner wichen zurück, Entsetzen in ihren Gesichtern. "Seht!", rief Pastor Harms. "Sie ruft ihre teuflischen Helfer!"
"Ich rufe niemanden", schrie Margarethe gegen den Lärm der Vögel an. "Sie kommen von selbst!"
In der Verwirrung packte Heinrich ihre Hand. "Lauf", zischte er. "Zum Keller. Es gibt einen Weg."
Sie stolperte hinter ihm her, zurück in die Mühle, die Schreie der Männer und das Kreischen der Raben in ihren Ohren. Heinrich stieß eine verborgene Tür im Mahlraum auf und zog sie eine steile Treppe hinab.
"Woher...?", begann sie.
"Dein Vater", keuchte er. "Er hat mir geholfen, als ich desertiert bin. Mich hier versteckt, bevor ich zurück ins Dorf ging."
Im Keller führte ein niedriger Tunnel vom Haus weg, in Richtung des Kanals. Heinrich entzündete eine Laterne und drückte sie ihr in die Hand.
"Der Weg führt zu einem Boot", erklärte er hastig. "Folge dem Kanal nordwärts bis zur Küste. Von dort kannst du ein Schiff nach Dänemark finden."
"Und du?"
Er lächelte traurig. "Ich halte sie auf. Gib mir einen Vorsprung."
"Nein", sagte sie entschieden. "Ich gehe nicht ohne dich."
Schritte polterten über ihnen auf den Holzdielen. Sie hatten nicht viel Zeit.
Heinrich nahm ihr Gesicht in seine Hände, wie in der Nacht zuvor. "Dann warte auf mich. Am Ende des Tunnels. Wenn ich nicht komme... fahr ohne mich."
Sie küsste ihn, verzweifelt und voller Angst, dann drehte sie sich um und rannte durch den Tunnel, die Laterne vor sich herschwenkend. Der Weg war lang und eng, muffig von Jahrzehnten der Feuchtigkeit. Als sie endlich am Ende ankam, fand sie, wie Heinrich gesagt hatte, ein kleines Boot, versteckt unter Schilf und Weiden.
Sie wartete, die Zeit zerfloss wie Wachs, Minuten dehnten sich zu Stunden. Die Sonne stieg höher, ihr Licht drang durch das Blätterdach über ihr. Kein Laut aus Richtung der Mühle drang zu ihr. Nur das sanfte Plätschern des Wassers und der Gesang der Vögel – aber keine Raben mehr.
Als sie das Geräusch von Schritten hörte, erstarrte sie. Dann tauchte Heinrichs Gestalt aus dem Tunnel auf, blutig, aber lebendig.
"Sie werden uns suchen", sagte er, als er ins Boot stieg. "Aber nicht sofort."
"Was ist passiert?"
Ein grimmiges Lächeln huschte über sein Gesicht. "Die Raben... sie haben Zeit verschafft. Und ich habe die Mühle in Brand gesetzt."
Margarethe spürte einen Stich im Herzen. Die Mühle, ihr Erbe, ihr Zuhause.
"Es war nur Holz und Stein", sagte Heinrich sanft, als könnte er ihre Gedanken lesen. "Was zählt, ist, dass wir am Leben sind."
Als sie das Boot vom Ufer abstießen, sah Margarethe in der Ferne eine Rauchsäule aufsteigen, dort, wo einst die Mühle gestanden hatte. Und über der Rauchsäule kreisten die Raben, schwarz gegen den Himmel, wie ein letzter Gruß.
Nachwort
Der Dreißigjährige Krieg hatte Europa verwüstet und das Leben von Millionen gefordert. In den Jahren nach dem Westfälischen Frieden 1648 suchten die Menschen nach Ordnung und Sicherheit – und oft genug nach Sündenböcken für ihr Unglück. Die Hexenverfolgungen, die bereits vor dem Krieg begonnen hatten, flammten in vielen Regionen erneut auf. Gerade Frauen, die außerhalb der gesellschaftlichen Normen lebten, waren gefährdet. Die Geschichte von Margarethe Tiessen steht exemplarisch für jene, die zwischen den Fronten von Aberglauben und aufkeimendem Rationalismus gefangen waren. In den Küstenregionen Norddeutschlands flohen viele Verfolgte nach Dänemark und in die Niederlande, wo die Hexenprozesse früher als in deutschen Territorien zum Erliegen kamen. Während die meisten Mühlen jener Zeit längst verschwunden sind, kreisen die Raben noch immer über den Marschlandschaften, als trügen sie ein Geheimnis mit sich, das sie nicht preisgeben wollen.